Die alleinerziehende Mutter Niina demoliert aus Versehen das Panoramafenster der „Lappland News“. Der Chef des harmonieliebenden Käseblättchens lässt sich von ihr überreden, den Schaden mit selbstgeschriebenen Artikeln wieder auszugleichen – heitere Themen vorausgesetzt! Niina aber glaubt, an einer großen Story dran zu sein. Hat wirklich niemand außer ihr den ohrenbetäubenden Knall gehört? Als finnische Verteidigungskräfte in dem Dörfchen anrücken, verdichten sich die Hinweise, dass im Eis eine sowjetische Rakete abgestürzt ist. Die lethargischen Lappländer wollen von atomarer Angst aber nichts wissen. Doch Niina verwickelt sich in eine absurde Investigativ-Recherche, auf der die Wahrheit immer nur eine Raketenlänge entfernt ist.
Finnischer Feinsinn: Mit einer ganzen Armada irrwitziger Figuren und einer wundervoll unerschrockenen Protagonistin erzählt „Neuigkeiten aus Lappland“ von der so berührenden wie urkomischen Reise einer Frau zu sich selbst. Eine schräge finnische Komödie, die die 1980er Jahre in ihrer ganzen Schönheit wieder auferstehen lässt.
1984 im tief verschneiten Lappland. Für die Alleinerziehende Niina (Oona Airola) lief es schon mal besser. Mit ihren beiden kleinen Kindern Janne und Jonna schlägt sie im Wald eine Weihnachtstanne, doch auf dem Rückweg löst sich der Anhänger samt Baum von ihrem Auto und rast ungebremst ins Schaufenster des lokalen Käseblatts „Neuigkeiten aus Lappland“. Der – wie nicht anders zu erwarten – wenig begeisterte Chefredakteur Esko (Hannu-Pekka Björkman), ein in die Jahre gekommener Vokuhila-Träger in Trainingsjacke, brummt, das koste zehntausend Mark – eine Katastrophe für Niina, die in einer bescheidenen Wohnung lebt. So bleibt der jungen Mutter nur eins: in der eigentümlichen kleinen Redaktion ihre Schulden abzuarbeiten – als Lokalreporterin.
Doch worüber schreiben? Der beliebteste Artikel aus dem letzten Jahr handelt von Aimo Pirtikkola, der beim Eisangeln einen Strumpf verloren hat. Verzweifelt macht sich Niina, deren Schreiberfahrung sich größtenteils auf das Verfassen von Gedichten für eine Pferdezeitschrift beschränkt, auf die Suche nach einem spannenden Thema. Und tatsächlich: Als sie einen lauten Knall hört und finnische Verteidigungskräfte im schneebedeckten Hotel am Ende der Welt aufkreuzen, in dem Niinas resolute Schwester Kaisa (Emma Kilpimaa) ihre Hochzeit feiert, ist Niina überzeugt, etwas ganz Großem auf der Spur zu sein. Kann tatsächlich eine sowjetische Rakete im finnischen Luftraum abgestürzt sein – und hat diese womöglich einen Atomsprengkopf?
Ein aberwitziges Abenteuer beginnt, in dessen Verlauf die engagiert recherchierende Niina sich weder vom lethargisch-harmoniesüchtigen Lokaljournalisten Esko noch von toxischen Verwandten wie der herablassend lästernden Stiefmutter und Kaninchenmörderin Hanski (Milka Ahlroth) oder ihrem frisch aus dem Knast entlassenen Schläger-Ex Tapio (Tommi Eronen) aufhalten lässt – und in dem auch Kai (Pyry Kähkönen), Pilot der lappländischen Luftwaffe, eine nicht unbedeutende Rolle spielt.
Der finnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Miia Tervo ist mit Neuigkeiten aus Lappland, ihrem zweiten Spielfilm, eine kurzweilige Tragikomödie mit Tiefgang und dem für das finnische Kino so typischen lakonisch-melancholischen Sound und den verschrobenen Charakteren à la Aki Kaurismäki gelungen – inspiriert durch ein reales Ereignis: Ende Dezember 1984 stürzte ein sowjetischer Marschflugkörper in den lappländischen Inari-See, den drittgrößten See Finnlands, Journalist*innen aus dem Ausland reisten an und berichteten. Miia Tervo, 1980 geboren, kommt selbst aus einem kleinen Dorf in Lappland und weiß, wie die Menschen in der finnisch-russischen Grenzregion ticken: Statt sich aus der Ruhe bringen zu lassen, backen sie lieber Krapfen in Raketenform und servieren Raketen-Forelle mit Tischfeuerwerk.
Für ihr ebenso in Lappland spielendes Spielfilmdebüt Aurora (2018) gewann Tervo 2020 sieben Jussi Awards, den auch als „finnischer Oscar“ bekannten Filmpreis, und Neuigkeiten aus Lappland ist ebenfalls bereits preisgekrönt: Beim Göteborg Film Festival gewann Hauptdarstellerin Oona Airola, die schon in Aurora mitwirkte, den Dragon Award als beste Schauspielerin. Neben dem durchweg überzeugenden Darsteller*innenensemble versetzen Musik, Szenen- und Kostümbild glaubhaft in die 80er zurück: Hier im kargen, verschneiten Norden muss Eskos Vokuhila dem eiskalten Wind standhalten, bis der Träger der miesen Frise seine knallrote „Wheel of Fortune“-Bauchtasche ablegen und sich bei Wodka und gebratenem Rentier aufwärmen kann. Auf der Tanzfläche schwingen die schrägen, liebevoll und detailreich gezeichneten Figuren zu Enola Gay das Tanzbein, die Lederfransen und Puffärmel, und der Vater kackt auf den Kassettenrekorder, weil er – völlig verständlich – Modern Talkings You’re My Heart, You’re My Soul so sehr hasst.
Über alle Absurditäten hinaus legt Miia Tervo den alltäglichen Sexismus der 1980er-Jahre gnadenlos offen. Lokalschreiberling Esko hat zwar ein gutes Herz, fasst Niina jedoch auch ungefragt in die Haare und fände es deutlich angenehmer, wenn sie das Rezept des schmackhaften Raketen-Gebäcks herausfinden oder ein Interview zur Raketen-Forelle führen würde, statt politisch Position zu beziehen. Die Streitkräfte im Hotel tätscheln Niina übergriffig im Vorbeigehen, schlagen ihr vor, mit ihnen in die Sauna zu kommen, und nehmen sie als Journalistin überhaupt nicht ernst. Doch Neuigkeiten aus Lappland – oder Ohjus im Finnischen, was „Rakete“ bedeutet – ist auch eine Geschichte weiblicher Selbstermächtigung. Vor dem Spiegel übt Niina, Nein zu sagen, um wenig später ihren Ex-Mann abzuweisen, der mit einem Gewaltausbruch reagiert.
Nicht nur die im Film präsente körperliche und verbale Gewalt gegen Frauen und Niinas prekäre finanzielle Situation als Alleinerziehende wirken erschreckend aktuell, sondern auch die Angst vor einem russischen Angriff – Tervo hatte den Film bereits geschrieben, als die Invasion russischer Truppen die Ukraine begann – oder einem Atomkrieg. In Neuigkeiten aus Lappland lässt sich Finnland unterwürfig vom mächtigen Nachbarn Russland auf der Nase herumtanzen und auch Niina lässt lange alles mit sich machen und bringt Verständnis für ihren gewalttätigen Ex-Partner auf. Doch Miia Tervos rundum gelungener, absurd-komischer und nicht weniger gesellschaftskritisch-feministischer Film zeigt: Grenzen zu setzen und zu verteidigen kann heute so schwierig und dennoch so unerlässlich sein wie vor 40 Jahren – persönlich wie politisch.
Doch worüber schreiben? Der beliebteste Artikel aus dem letzten Jahr handelt von Aimo Pirtikkola, der beim Eisangeln einen Strumpf verloren hat. Verzweifelt macht sich Niina, deren Schreiberfahrung sich größtenteils auf das Verfassen von Gedichten für eine Pferdezeitschrift beschränkt, auf die Suche nach einem spannenden Thema. Und tatsächlich: Als sie einen lauten Knall hört und finnische Verteidigungskräfte im schneebedeckten Hotel am Ende der Welt aufkreuzen, in dem Niinas resolute Schwester Kaisa (Emma Kilpimaa) ihre Hochzeit feiert, ist Niina überzeugt, etwas ganz Großem auf der Spur zu sein. Kann tatsächlich eine sowjetische Rakete im finnischen Luftraum abgestürzt sein – und hat diese womöglich einen Atomsprengkopf?
(aus Kino-Zeit)
Schauspieler: Oona Airola, Pyry Kähkönen Tommi Korpela, Hannu-Pekka Björkman, Jarkko Niemi, Emma Kilpimaa, Tommi Eronen, Ona Kamu
Regie: Miia Tervo
Genre: Drama, Komödie
Dauer: 119 Min
Zulassung: ab 12 Jahre
Land: Finnland, Estland
Erscheinungsdatum: 2024
Montag, 25. November 20.00 Uhr (Saal 1)
Dienstag, 26. November 20.15 Uhr (Saal 2)